Daran, dass etwas gegen die Wohnungsnot getan werden muss, besteht ebenso wenig Zweifel wie daran, dass Ressourcen- und Flächenverbrauch sowie die Bodenversiegelung eingedämmt werden müssen. Was also tun, wenn beide, scheinbar widersprüchliche Ziele in Einklang gebracht werden sollen? Warum Suffizienz (Genügsamkeit) als Nachhaltigkeitsstrategie mehr Aufmerksamkeit verdient, erläuterte Michaela Christ in ihrem Impulsvortrag bei 37. Runden Tisch.
von Dr. Michaela Christ
Bild: Jonas Tebbe
In der öffentlichen Debatte wird häufig ein Zielkonflikt zwischen Lösungsansätzen zur Wohnungsnot und zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen genannt: Einerseits werden immer mehr Haushalte durch steigende Mieten schwer belastet. Vor allem an günstigen Wohnungen für Ein- und Zweipersonenhaushalte mangelt es. Um diesen Druck am Wohnungsmarkt auszugleichen, hat die Bundesregierung das Ziel ausgegeben, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen. Allein: Bauen und Wohnen sind energie-, flächen und ressourcenintensiv und damit klimarelevant. Um Ressourcen zu schonen, soll bis 2050 eine „Flächenkreislaufwirtschaft“ erreicht sein. Das heißt, dass keine neuen Flächen in Anspruch genommen werden können, ohne entsprechenden Ausgleich andernorts. 50 Prozent der Rohstoffe, die in Deutschland verbraucht werden, dem Bausektor zuzurechnen, 35 Prozent der Treibhausgasemissionen werden für die Errichtung, den Erhalt und Betrieb von Gebäuden verwendet und mehr als die Hälfte des in Deutschland anfallenden Mülls sind Bau- und Abbruchabfälle. Der Zielkonflikt scheint offensichtlich: Wo aus sozialen Erwägungen mehr Wohnraum entstehen müsste, legen ökologische Gründe das Gegenteil nahe.
Beispiele für diesen Zielkonflikt finden sich in allen wachsenden Städten. In Berlin ist das Tempelhofer Feld ein interessanter Betrachtungsgegenstand, um das Dilemma zu illustrieren: Die herrschende Wohnungsnot weckt Begehrlichkeiten bezüglich der Bebauung des Feldes, gleichzeitig hat das ehemalige Flugfeld enorme Gesundheits-, Freizeit- und Klimaschutzfunktionen. Das Feld, wie die Berliner:innen diese Grünanlage nennen, gilt als Klimaanlage, insbesondere für die angrenzenden, dicht bebauten Stadtquartiere. Es ist darüber hinaus ein Ort der Erholung, für Sport- und Freizeitaktivitäten unterschiedlichster Art. Grünflächen sind für alle Menschen in einer Stadt relevant. Vor allem aber für Menschen mit geringem Haushaltseinkommen, die tendenziell in kleineren Wohnungen leben.
Wenn die Ziele der (Netto-Null-)Flächenneuinanspruchnahme ernst genommen werden würden, hieße es: Das Vorhandene (der Bestand) müsste besser genutzt werden und Neubau wäre die allerletzte Option.[1]
Eine Möglichkeit des Umgangs mit dem Zielkonflikt [zwischen Wohnungen schaffen und Flächen sparen] kommt in der öffentlichen Debatte bisher zu kurz: Genügsamkeit.
Eine Möglichkeit des Umgangs mit dem skizzierten Zielkonflikt kommt in der öffentlichen Debatte bisher zu kurz: Genügsamkeit. In der Nachhaltigkeitsforschung werden drei Wege, drei Strategien voneinander unterschieden, mit denen Ressourcen eingespart und damit schädliche Auswirkungen auf Natur und Umwelt minimiert werden können: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Suffizienz leitet sich aus dem lateinischen sufficere, Genug haben, ab. Unter Suffizienz verstanden werden Nutzungs- und Verhaltensveränderungen und das Setzen absoluter Grenzen in Bezug auf den Verbrauch endlicher Ressourcen. Effizienz meint die Erhöhung der Ressourcenproduktivität, Konsistenz bedeutet die Kreislaufführung von Ressourcen. Nachhaltigkeitswissenschaftler:innen gehen davon aus, dass alle Strategien nötig sind, um den Ressourcenverbrauch effektiv zu reduzieren und Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Zentraler Gedanke dabei ist, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen endlich sind und daher so konsistent und effizient wie möglich genutzt werden sollten.
Die drei Nachhaltigkeitsstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz.
Grafik: Sarah Heuzeroth, Creative Commons 4.0 BY-NC-ND. Aus: Böcker, Christ et al. (2021).
Eine Möglichkeit des Umgangs mit dem skizzierten Zielkonflikt kommt in der öffentlichen Debatte bisher zu kurz: Genügsamkeit. In der Nachhaltigkeitsforschung werden drei Wege, drei Strategien voneinander unterschieden, mit denen Ressourcen eingespart und damit schädliche Auswirkungen auf Natur und Umwelt minimiert werden können: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Suffizienz leitet sich aus dem lateinischen sufficere, Genug haben, ab. Unter Suffizienz verstanden werden Nutzungs- und Verhaltensveränderungen und das Setzen absoluter Grenzen in Bezug auf den Verbrauch endlicher Ressourcen. Effizienz meint die Erhöhung der Ressourcenproduktivität, Konsistenz bedeutet die Kreislaufführung von Ressourcen. Nachhaltigkeitswissenschaftler:innen gehen davon aus, dass alle Strategien nötig sind, um den Ressourcenverbrauch effektiv zu reduzieren und Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Zentraler Gedanke dabei ist, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen endlich sind und daher so konsistent und effizient wie möglich genutzt werden sollten.
Es braucht die Suffizienz, um die Gewinne aus den enormen technischen Errungenschaften der anderen beiden Strategien heben zu können. An einem Beispiel: In den vergangenen 30 Jahren ist die Wohnfläche pro Kopf von 35 auf 47 Quadratmeter gestiegen, das heißt, der Flächenverbrauch für das Wohnen hat erheblich zugenommen. Dies liegt vor allem an der wachsenden Zahl von Ein- und Zweipersonenhaushalten und befördert wird diese Entwicklung durch (zumindest in der Vergangenheit) kontinuierlich sinkende Wärmeenergiekosten. Verbesserte Bauweisen und Dämmstoffe haben dazu beigetragen, dass die Heizkosten pro Quadratmeter gesunken sind. Das heißt, man kann heute mehr Wohnfläche zum selben Preis mit Wärme versorgen, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Mit anderen Worten, der Effizienzgewinn, der sich aus den besseren Baumaterialien ergeben hat, wird durch steigende Wohnflächen kompensiert. Hier kommt die Suffizienz ins Spiel. Um solche Effekte zu vermeiden, ist es sinnvoll, sich auf eine Begrenzung des Ressourcenverbrauchs zu verständigen.
Erweiterte Suffizienz-Entscheidungspyramide.
Quelle: BBSR 2023, auf Basis von Billenstein et al. 2021
Wenn die Ziele der (Netto-Null-)Flächenneuinanspruchnahme ernst genommen werden würden, hieße es: Das Vorhandene (der Bestand) müsste besser genutzt werden und Neubau wäre die allerletzte Option.[1]
In einer aktuellen Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung, in der ein wertschätzender und bedürfnisorientierter Umgang mit Flächen beschrieben wird, skizziert eine Entscheidungspyramide, welche Maßnahmen zur Reduktion des Flächenverbrauchs beitragen. In der Pyramide aufgetragen sind von unten nach oben Maßnahmen entsprechend ihres Ressourcen- und Energieaufwands. Entsprechend wird für die Nutzung von Leerstandsflächen am Fuß der Pyramide am wenigsten und für den Neubau, der an der Spitze steht, am meisten Energie verbraucht. Genügsamkeit bedeutet in diesem Fall, Bestandsgebäude zu nutzen. Die Studie zeigt in diversen Beispielen, welches Potenzial in der Bestandsnutzung liegt: Wenn es durch andere Nutzungen des bestehenden Gebäudebestands gelänge, die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf um nur einen Quadratmeter zu senken, so würden die rechnerisch frei werdenden 80 Mio. Quadratmeter einer Million Wohnungen (à 80 m²) entsprechen. Ebenso liegt ein enormes Potenzial in den 60 % der 16 Millionen Ein- und Zweifamilienhäuser in Deutschland, in denen nur eine oder zwei Personen leben – schon wenn es gelänge, nur 1 Prozent dieses Bestandes pro Jahr zu aktivieren. Vielfach belegt ist inzwischen, dass ein Teil der alleinlebenden Älteren bereit wären, auszuziehen, aus Kostengründen, weil Einsamkeit ein Problem ist oder weil ein Haus mit Garten aufwändig in Pflege und Unterhalt sind. Allein: Es mangelt an guten Alternativen und entsprechenden rechtlichen Absicherungen und Rahmenbedingungen. Zudem fehlt bezahlbarer Wohnraum, in dem eigenständiges und selbstbestimmtes Wohnen in guter Nachbarschaft auch im Alter möglich ist.
Der vermeintliche Zielkonflikt zwischen ökologischen und sozialen Herausforderungen ergibt sich nicht dadurch, dass es keine Lösungen oder Alternativen zu bestehenden Umgangsweisen gäbe. Er entsteht vielmehr dadurch, dass Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie als politisch heikel und schwer vermittelbar gilt. In den vergangenen Jahrzehnten wurden gesellschaftliche Herausforderungen durch Wachstum und mehr Naturverbrauch gelöst. Das Ziel, 400.000 neue Wohnungen im Jahr zu schaffen, steht paradigmatisch für diese Art der Problemlösung. Vor dem Hintergrund der begrenzten Ressourcenverfügbarkeit wäre es an der Zeit, Herausforderungen anders zu begegnen. Zum Beispiel mit der Frage: Wie viel ist genug?
Zum Weiterlesen
Böcker, Christ et al. (2021): Wie wird weniger genug? München: oekom.
Fußnoten
[1] BBSR (2023): Unterstützung von Suffizienzansätzen im Gebäudebereich.https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/bbsr-online/2023/bbsr-online-09-2023.html
Über die Autorin
Dr. Michaela Christ ist Soziologin und seit Ende 2023 Leiterin des Teams Nahmobilität am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). Zuvor beschäftigte sie sich am Norbert Elias Center der Europa Universität Flensburg als Leiterin des Forschungsbereichs Historische Transformationsforschung unter anderem mit suffizienzorientierter Stadtentwicklung.